Das Wiedersehn

Das Wiedersehn
Er:
Süße Freundin, noch Einen, nur Einen Kuß noch gewähre
Diesen Lippen! Warum bist du mir heute so karg?
Gestern blühte wie heute der Baum, wir wechselten Küsse
Tausendfältig; dem Schwarm Bienen verglichst du sie ja,
Wie sie den Blüten sich nahn und saugen, schweben und wieder
Saugen, und lieblicher Ton süßen Genusses erschallt.
Alle noch üben das holde Geschäft. Und wäre der Frühling
Uns vorübergeflohn, eh sich die Blüte zerstreut?
Sie:
Träume, lieblicher Freund, nur immer! rede von Gestern!
Gerne hör ich dich an, drücke dich redlich ans Herz.
Gestern, sagst du? – Es war, ich weiß, ein köstliches Gestern;
Worte verklangen im Wort, Küsse verdrängten den Kuß.
Schmerzlich wars, zu scheiden am Abende, traurig die lange
Nacht von gestern auf heut, die den Getrennten gebot.
Doch der Morgen kehret zurück. Ach, daß mir indessen oethe
Zehnmal, leider! der Baum Blüten und Früchte gebracht!

Goethe

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